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Begegnung am Joch

Der eine kam von der Südseite, aus dem Bachertal, Val del Rio. Der andere kam von der Nordseite, aus dem Knuttental, Valle dei Dossi. Der eine war ein Franziskaner, Priester aus Ancona, ein Italiener. Der andere ein Physiker aus Deutschland. Beide allein unterwegs. Sie begegneten sich am Bärenluegjoch, begrüßten sich, "Buon giorno!", "Grüß Gott!". Dann suchten sie nach einer gemeinsamen Sprache, im zweisprachigen Südtirol. Der eine sprach nur italienisch, kaum englisch, kein deutsch. Der andere deutsch, englisch, kaum italienisch ("montanara"?). Vielleicht wäre Latein möglich gewesen, für den Franziskaner sowieso, aber was nützt ein großes Latinum in den Bergen.

Ein gemeinsames Ziel hatten aber beide, die Dreieckpitze, Triangola di Riva, gerade über 3000 m, obwohl sich Wolken ringsum türmten, aber ein kurzer Grat, unschwierig, Gehgelände, was zählt da das Wetter. Das Gepäck wurde zurückgelassen, unter dem Regenschirm des Italieners, gut beschirmt!

Schnell waren sie oben, der Italiener voran. Am Gipfel keine Sicht, nur Nebel, einsetzender Schneefall. Ein symbolischer Gipfel, aber ein Gipfel: es geht nicht höher. Dann schnell runter, weg vom Blitzschlag gefährdeten Grat, nur runter! Aber welcher Grat ist der richtige? Im Nebel keine Chance! Endlich am Ausgangspunkt  aber wo ist der Schirm, wo das Gepäck? Sie sind falsch, in das falsche Seitental abgestiegen. Zum Glück eine Karte und ein Höhenmesser dabei, umschauen, kontrollieren: "Hier müssten wir jetzt sein." "Da müssen wir hin." Zurück zum Grat, ein kurzes Stück hoch, jetzt sind sie richtig. Ins nächste Seitental runter. Da ist der Schirm, schneebedeckt, als ob sie Stunden weg waren. Das Gepäck trocken, der Tee in der Thermoskanne warm und die beiden wärmend. Dann trennten sie sich. Der eine stieg ins Knuttental ab, nach Norden. Der andere ins Reintal, nach Süden.

Dem anderen fällt diese Geschichte oft ein, wenn er an Begegnungen in den Bergen denkt.

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